Adrienne Braun // Eröffnungsrede der Ausstellung „vivace“ in der Galerie Thron, Reutlingen, 2016

Eröffnungsrede der Ausstellung „vivace“ in der Galerie Thron,  Reutlingen
von Adrienne Braun, Stuttgart

21. Februar 2016

 

Ich freue mich hier sprechen zu dürfen – und doch lastet die Verantwortung schwer auf meinen Schultern. Ein falsches Wort – und schon habe ich Ihnen vielleicht die Laune verdorben. Ein Klang in meiner Stimme – und der eine fühlt sich von jetzt auf gleich unbehaglich, während der andere vielleicht positiv beflügelt wird von irgendeinem beiläufigen Gedanken, einer Formulierung, einer Geste.

Eigenwillige Dinge gehen in unseren Gehirnen vor sich. Jede Situation löst Gedanken aus, durch die eine physiologisch-chemische Reaktion in Gang gesetzt wird. Diese chemische Reaktion setzt wiederum Gefühle frei, die ähnliche Gedanken hervorbringen, die wiederum chemische Reaktionen auslösen – und immer so weiter und so fort.

Dieses ständige Wechselspiel zwischen Gedanken und Gefühlen ereignet sich in Hochgeschwindigkeit – und führt dazu, dass wir permanent von Bildern, Erinnerungen, Gedankenfetzen und Emotionen überflutet werden, oft genug auch von völlig Unzusammenhängendem und Unlogischem, das unser Sein aber extrem beeinflusst. Sie kennen das sicher – plötzlich nagt etwas in unserer Seele, aber wir wissen nicht, warum. Dann wieder werden wir aggressiv oder versöhnlich, wie aus heiterem Himmel.

Nicole Bold weiß um diese unsere Sensibilität. Sie weiß, wie empfindsam und zugänglich, ja anfällig wir sind für Stimmungen und Sinnesreize. Ihre Malerei nutzt genau diesen Mechanismus aus, dass wir Gesehenes in Emotionen übersetzen. Vordergründig mag Nicole Bold eine Naturmalerin sein. Ihre Motive sind eindeutig von Wasser, Landschaften, Blüten, Büschen abgeleitet, die aber in seltenen Fällen auf konkreten Fotografien basieren, sondern meist aus dem Gedächtnis hervorgeholt wurden.

Nicole Bold ist in Überlingen groß geworden, und die zahllosen Ansichten des Bodensees haben sich in ihre Erinnerung eingebrannt, das Wasser, das in der Sonne glitzert oder der feuchte Nebel, der schwer über dem See hängt. Sie kennt die vielfältigen Farbnuancen des Wassers, das mal olivgrüne, mal tiefschwarz und dann wieder lichtblau sein kann. Sie hat auch all die mannigfachen Schattierungen und Tönungen der Wiesen, Wälder, Felder im Wandel der Jahreszeiten in sich aufgesogen.

Trotzdem behaupte ich: Nicole Bold ist eine durch und durch abstrakte Malerin. Ihre Bilder verraten uns nichts über lanzettförmige oder bauchige Blattstrukturen, über krustige Baumstämme oder fein gezackte Blüten. Keines dieser Bilder taugt dazu, im Biologie- oder Naturkundebuch abgedruckt zu werden, weil hier nichts kopiert oder in seinem spezifischen Wesen definiert wird.

Stattdessen haben wir es mit Farbflächen zu tun, die mit gestischem Schwung aufgetragen werden oder auch mit wässriger Farbe, die in feinen Linien senkrecht über die Leinwand trielt. Hier stoßen wir auf durchschimmernde Partien, die wie gespachtelt wirken, dort wirft sich das Material zu skulpturalen Oberflächen auf. Wir sehen Flächen und ahnen Räume, Tiefe, unterschiedliche Bildebenen.

Denn Nicole Bold setzt Schicht um Schicht auf die Leinwand. Sie setzt also nicht ein Motiv neben das nächste und baut so ihre Bilder additiv auf. Sondern die Kompositionen entstehen durch das Übereinanderlegen von Elementen. Sie formuliert nicht einfach Farbflächen, Formen, sondern durch das ewige Übermalen, Dazugeben entstehen diverse Bildebenen, die ineinandergreifen und in spannungsvolle Relationen zueinander treten. Es entsteht eine abgründige Tiefe, eine Vielschichtigkeit, auch Widersprüchlichkeit.

Bei diesem sukzessiven Entwickeln und dem Ausarbeiten dieser Schichten scheint Nicole Bold der Materie aber noch etwas einzuverleiben, nämlich das, was sie in ihrem Bildgedächtnis gespeichert hat. Sie schreibt ihren abstrakten Formen etwas ein, lädt sie auf durch etwas, das über rein äußerliche Merkmale hinausgeht. Denn es geht nicht darum, wie genau die Blätter ausschauen, die da auf der Wasseroberfläche gleiten. Es geht nicht um die Beschaffenheit des Laubes, das da feucht an den Ästen hängt, auch nicht um die Lichtspiele der Sonne.

Die Bilder wecken Assoziationen, sie erinnern uns an Erde, an Felder, an Landschaftspanoramen, aber es ist eben nicht das Spiel mit der äußeren Erscheinungsform, es soll nicht das Sichtbare anklingen, indem wir Blätter, Stängel, Blüten sehen. Sondern Nicole Bold gelingt es, das sinnliche Erleben zu vermitteln, eben das, was die Natur jenseits der visuellen Erscheinung bereit hält. Denn natürlich ist der Bodensee nicht nur blau oder grün oder schwarz, er ist auch kühl oder frisch, wild und gefährlich, oder sanft und gefällig.

Schon die Impressionisten, das wissen Sie, haben versucht, die Stimmung einer Landschaft einzufangen, das Flirren des Lichts, die zahllosen Farbschattierungen – und doch war es ein Spiel allein mit optischen Reizen.

Bei Nicole Bold dagegen wird man eingefangen von einer Atmosphäre, von Feuchte, Kühlem, Nassen, Wässrigem. Plötzlich fröstelt es einen, wie wenn man Schimmel an der Kellerwand entdeckt, wenn sich Moos über die Platten auf der Terrasse zieht. Dann wieder bringen kleine goldgelbe Punkte Glanz, Helligkeit und damit Licht in unsere Seele. Hier fühlt man sich bedroht, fürchtet, umschlungen zu werden wie von Lianen oder aggressiven Luftwurzeln.

Und doch gibt es weder Schimmel, noch Moos, keine Sträucher, keine goldgelben Blätter, keine schwebenden Federn oder Pilze auf dem Waldboden, nicht Blätter auf dem Teich und schon gar keine Lianen im Urwald. Es gibt nur abstrakte Malerei. Punkt.

So sorgfältig die Bilder komponiert und in den Rahmen gesetzt sind, gelingt es Nicole Bold, der Malerei Sinnlichkeit und Leben einzuhauchen. Sie verewigt die Natur nicht, will sie nicht bewahren, erhalten, in Stein meißeln, wie es über Jahrhunderten die ureigentliche Aufgabe der Malerei war, die Menschen, Szenen, Dinge letztlich dokumentierte, für die Ewigkeit konservierte.

Nicole Bold gelingt es vielmehr, in der Abstraktion die Lebendigkeit der Natur darzustellen. Sie schafft, was doch ganz und gar unmöglich ist: dass die Malerei zu leben scheint. Diese Schichten und Ebenen interagieren, diese heterogenen grafischen und malerischen Elemente befinden sich in einem dynamischen Spannungsverhältnis, sie greifen ineinander und scheinen doch unabhängig voneinander zu existieren. Diese Bilder beschreiben eine fremde Sphäre, flüchtig, losgelöst, etwas, das sich unserer Kontrolle entzieht. Hier lebt etwas völlig ungerührt von unseren Blicken – lebt wie der Kosmos der Natur auch.

Aus der Tiefe heraus scheinen sich Abgründe emporzuarbeiten, hier zieht etwas vorbei, dort bahnt sich anderes seinen Weg. Das Blau kaschiert notdürftig das so viel stärkere Gelb, düstere Schatten legen sich über Helles, Farbschlieren scheinen das gesamte Bild wie in einem strömenden Regen auswaschen, wegschwemmen zu wollen.

Und da sind wir eben wieder bei unserem wilden Gefühlsleben, dem Zwiegespräch, das wir permanent mit der Umwelt führen, weil die Assoziationen, Emotionen, Gedanken uns dazu zwingen. Nicole Bold packt uns dort, wo wir am empfänglichsten sind: den Gefühlen. Sie schafft es, die zahllosen feinstofflichen Aspekte der Natur auszulösen, ohne sie plump mimetisch abzubilden.

Nicole Bold kopiert die Natur nicht, äfft nicht Formen und Farben nach, sondern erweitert die Malerei sozusagen um eine neue Kategorie, indem sie ganz konkret sinnliches Erleben auslöst, das nicht mehr an Gegenstände, an Geschichte, Erzählung gebunden ist – sondern allein durch reine Malerei erzeugt wird.

So erfahren wir bei den Arbeiten von Nicole Bild zwar auch sehr viel über Malerei, aber vor allem auch etwas über uns, darüber, wie wir wahrnehmen und die Welt aufnehmen – nämlich nicht nüchtern sondierend, sondern mit all unseren Sinnen. Wir gehen meist selbstverständlich davon aus, dass Bildende Kunst uns visuelle Angebote macht, die wir über die Augen erfassen und direkt ans Gehirn weiterleiten, das nüchtern und rational analysiert und interpretiert.

Nicole Bold macht uns dagegen bewusst, was auch die Hirnforschung längst erkannt hat, dass wir nicht die Vernunftwesen sind, die wir oft vorgeben zu sein, sondern dass es konstitutiv in uns angelegt ist, auf Reize jedweder Art auch emotional zu reagieren.

Deshalb lade ich sie jetzt ein, abzutauchen ins Nass, sich die Schuhe schmutzig zu machen im Schlamm, die Haare in herabhängenden Ästen  zu verfangen, die Sonne in ihr Herz scheinen zu lassen, zu fühlen, zu riechen. Und zugleich über das größte Wunder zu staunen, das heute ausnahmsweise nicht das Wunder der Natur ist, sondern das Wunder, dass abstrakte Malerei uns die Natur so vielfältig spüren lässt – mit nichts als ein bisschen Farbe auf Leinwand.

Adrienne Braun