Dr. Ute Hübner // Eröffnungsrede der Ausstellung „frizzante“ in der Städtische Galerie Tuttlingen, 2012

Eröffnungsrede der Ausstellung „frizzante“ in der Städtischen Galerie Tuttlingen, 2012

von Dr. Ute Hübner, Herrmann-Hesse-Museum, Gaienhofen

 

Liebe Nicole Bold,

es ist mir eine Freude, dass nach Ihrer Ausstellung in der Galerie Grashey in Konstanz im Sommer dieses Jahres eine weitere Ausstellung Ihrer neuen und schon wieder neuesten Arbeiten nun hier in der Galerie der Stadt Tuttlingen zu sehen ist und damit ihr Werk immer präsenter wird.

Zu den neuesten Arbeiten von Nicole Bold zählt das 4-teilige Werk „Partitur“, mit seinem imponierenden Breitwandformat. (im Eingangsbereich) Im Rhythmus von bewegten und stilleren Partien, von kräftigen Akzenten und verhaltener Spur manifestiert sich dieses Werk zunächst als Einheit. Wie differenziert die einzelnen Elemente jeweils sind und wie ihre Übergänge sich genau definieren, bleibt dem ersten Eindruck verborgen.
Gehen wir näher heran an die Bildwelten von Nicole Bold: Die Künstlerin realisiert traumhafte Bilder, Landschaften vielleicht, die Assoziationen wecken. Das Thema Natur zeigt sich in ihren Bildern als grenzenlos schöpferisches Potential. In feuchten Grün- und Blautönen, in leuchtenden Gelb- und Rottönen, in der Transparenz  verdünnter Farbflächen, in schlierenartigen Farbläufen sowie in der amorphen Sprache organisch wirkender Formen artikulieren sich Sinneseindrücke von Naturatmosphären, die in unterschiedlichen Graden der Abstraktion und bisweilen in latent surrealen Zusammenhängen präsentiert werden.
Die Malerei von Nicole Bold sperrt sich figürlicher Zuschreibung. Dennoch ist etwas darin, das den Betrachter glauben macht, hinter der Erscheinung noch eine Realitätsebene aufdecken zu können. Gerade dieses „Etwas“ gibt ihren Arbeiten einen Hauch von „Geheimnis“. Die Künstlerin kann so abstrakt malen wie sie will, ihre Bilder sind doch immer grundiert von ganz konkreten Erfahrungen des Sehens und Erlebens, die sich als Sedimentschichten in ihren Bildern erhalten, wie gegenstandslos sie auch immer auf den Betrachter wirken mögen.
Kaum haben wir begonnen, genauer zu schauen, uns auf die Eigenschaften der Bilder näher einzulassen, erheben sich Fragen nach Gegenständlichkeit und Abstraktion, nach Raum und Zeit, nach Beständigkeit und Veränderung. Die Bilder wollen keine konturierten Antworten liefern. Sie bevorzugen das Flüchtige,  lieben die Andeutung und sie tun das mit allen sinnlichen Möglichkeiten, welche die Malerei bieten kann.  Auch die Bildtitel wie „Bemerkungen zu einer Gegend“ oder „Als wäre es gefrorenes Licht“, die übrigens erst sehr viel später nach Vollendung eines Bildes von der Künstlerin bestimmt werden, geben keinen konkreten Hinweis auf das Dargestellte.

Unser Blick wird eingefangen von der Großzügigkeit der Komposition, er wird nahezu verführt einzutauchen, im Bildgrund zu versinken. Aber dieser Eindruck lässt sich nicht lange aufrecht  erhalten. Schon auf den nächsten Blick lassen sich Räume erahnen, Räume, die sich nach hinten öffnen, manchmal nur nischenhaft, manchmal aber auch in die undurchdringliche Tiefe eines dunklen Schwarzgrün oder Blauschwarz. Wir empfinden Farbschwere, stellenweise ein Farblasten, das Farbleuchten jedoch nicht ausschließt. Anlehnungen an Naturatmosphären werden besonders spürbar in Bildern, in denen frische, leuchtende Farbflächen heranwachsen, neue Valeurs regelrecht aufblühen, wie das dichte, strahlende  Gelb in dem Bild „Dies ist nur ein Teil des Ganzen“ oder im Zyklus „Partitur“.
In den vielgestaltigen, mehrdeutigen Bildräumen streifen wir mit den Augen an sinnlichen Farbflächen entlang, verlieren uns in den Bewegungslinien einzelner Pinselstriche oder Farbläufe, bleiben an den Rändern  hängen, sinken mit dem Blick nach hinten, werden von unergründbarem Licht,  von der schleierartigen Weichheit der Formen aufgefangen und immer wieder aus Neue hineingezogen in die vielschichtigen Farbtiefen. Aus diesem Vor und Zurück der Farbräume treten wegen ihrer hohen Farbintensität oder ihrer weiten Ausdehnung vereinzelte Inseln als Orientierungspunkte hervor, denn die Bilder von Nicole Bold haben kein Zentrum und keinen perspektivischen Fixpunkt, sondern sind in Bewegung begriffen. Verwischungen und Unschärfen nehmen bestehenden Farbpartien ihr Gewicht und vermitteln den Bildern im Zusammenwirken mit den Zwischentönen der reich differenzierten Farbpalette etwas Schwebendes, aber auch Ungeklärtes.

Die Werke von Nicole Bold lenken unsere Aufmerksamkeit an die unscharfen Grenzen des Malerischen, wo im undefinierbaren, sich vielfach überlagerndem Kontinuum aus Zeit und Raum Gegenständliches haften bleibt.  Das macht den bizarren Charakter dieser Werke aus, die im ambivalenten Verhältnis zwischen Aufscheinen und Verhüllen, zwischen  Innen- und Außenwelt oszillieren.
Es lohnt, den Weg der Farben etwas genauer zu verfolgen. Man hat zunächst den Eindruck scheinbar willkürlich auf die Leinwand gesetzter Farben, starker Farben wie Grün, Blau, Rot oder Gelb im kraftvollen Gegeneinander, kontrastiert durch Weiß und Schwarz.  Die Farben dehnen sich in unterschiedlicher Weise, mal schablonenartig, mal unregelmäßig aus, drängen vorwärts, stehen unvermittelt nebeneinander, hell neben dunkel, überlagern andere Farbpartien, bilden Kontraste oder auch chromatische Brechungen.
Die Flächen wirken im steten optischen Hin und Her beunruhigend und gleichzeitig maßvoll. Auch in den Fällen, in denen die Künstlerin die Bildfläche mit einer titanweißen, kreidigen Haut überzieht, deren fahl-milchiger Ton sich hier und da auflöst, sich dann aber stellenweise auch wieder aufstaut. Das zeigt sich besonders in der Arbeit, die Sie auch von der Einladung her kennen: „Schienen sich aufzulösen“ ist der Titel. Das Bild verführt zur Weiterfahndung nach landschaftlichen Elementen, die aber nahezu ins Leere läuft. Die Formen und Farben scheinen mit expressiver Geste ein Wollen oder Suchen auszudrücken, während das Weiß eher kühl zu bremsen scheint. In seiner pastosen Oberflächenstruktur ergibt sich ein Auf- und Absickern von Lichtwerten. Findet sich vielleicht gerade in diesen Bildern die Inspiration zum Ausstellungstitel „frizzante“? Die Bilder von Nicole Bold lassen viel Freiraum beim Assoziieren.

Wie entstehen die Bilder?

Nicole Bold arbeitet von allen Seiten an ihren Bildern, während diese oftmals auf dem Boden liegen. Die Bilder entstehen in langen Malprozessen: Schicht um Schicht legen sich Farben übereinander, verdichten sich zu bestimmten oder unbestimmten Formen.  Dabei entstehen Orte mit erhöhter Pigmentkonzentration auf der Leinwand. Mitteilsam werden somit Stellen markiert, an denen der Pinsel verweilte, in seiner Bewegung die Farbe vor sich hertrieb. Es sind Dokumente des Innehaltens, der Konzentration, der sichtbaren Bedenkzeit vor dem nächsten  Schritt, aber auch  Erkundungen auf dem Feld malerischer Grundlagen und malerischer Emotionen.
Die Farben sind teilweise wässrig – flüssig. Beim Malen wird der Bildträger wiederholt angehoben – aus einer Balance von Gesteuertem und Zufall entstehen Farbflüsse, Farbläufe. So fließt das Lineare im wahrsten Sinne des Wortes ein in die Malerei, kreuzt und quert sie.
Die Frage, wie viel Stille, Bewegung und Figuration das Bild zulässt, stellt sich jedes Mal neu. Den Moment, in dem eine bildnerische Geste gerinnen kann, ein Farbverlauf als Binnenform oder ein Linienzug als Randmotiv scheinbar vor der Zeit endet,  bestimmt  die Künstlerin.  In solchen Entscheidungen wird das Wesen des Werks autonom.
Nicole Bold  zeigt sich hier in souveräner Regie. Sie sammelt, prüft, verwirft,  findet neu.  Im Wissen um ihre malerischen Möglichkeiten ist ihre Kunst immer im Fluss; das Sichtbare ist präziser Zustand, nicht Abschluss. Insofern ist ihre Malerei, ein Abenteuer, bei dem die Künstlerin allein auf ihre Fähigkeiten vertrauen kann. Wenn sie den Malvorgang reflektiert, dann schildert Nicole Bold den Entstehungsprozess ihrer Bilder als eine langwierige Auseinandersetzung zwischen inneren Bildern, bzw. Ideen und Vorstellungen von Natur, Erinnerungen an Stimmungen und deren Umsetzung bzw. Übersetzung in Malerei.

Die Begründung der abstrakten Bildsprache als einer kongenialen Form, den geheimnisvollen Gesetzen von Natur und Leben Ausdruck zu verleihen, hat der Kunst des 20. Jh. unübersehbare neue Räume erschlossen, die bis heute nicht ausgeschöpft sind. In dieser Linie sind auch die Arbeiten von Nicole Bold zu sehen.
Sie hat keine fertige Vorstellung vom Bild, sondern bleibt während des langsamen, sukzessiven  Schaffensprozesses, (die Schichten von Lack und Farbe müssen stellenweise lange durchtrocknen, um weiter bearbeitet werden zu können,)  im Dialog mit ihrem Bild. Nicole Bold versteht ihre Malerei als einen Prozess von hoher emotionaler, intuitiver und kognitiver Intensität.  Ihre Leinwand ist während der allmählichen Verfertigung der Bilder beim Malen ein fordernder, duldender Partner.

Im Rückblick auf die letzten 5 Monate ist eine erstaunliche Entwicklung zu sehen, neue Werke, die sich in ihrer malerischen Bearbeitung noch sehr viel mehr als ein unendliches Experimentierfeld erweisen.

Losgelöst von Zwängen theoretischer Rechtfertigung erreichen die Bilder von Nicole Bold eine nochmals gesteigerte Dimension der Offenheit. Der Kontakt zu Farbe und  Form bzw. Fläche als Bewegungsraum ist hier visuell von sinnlicher Kraft.

Die komplexe Organisation der Bilder dient Nicole Bold als eine immer wieder neue Möglichkeit, die Umgestaltung des eben Gefundenen verfolgen zu können. Hier gewinnt die Künstlerin die Sicherheit, auch auf unsicherem Fundament, im Ungefähren, im Zwischenbereich aufzutreten. Behutsam verlässt sie die festen Formen – die Befreiung der Sinne, die Lust am Malen übertragen sich unmittelbar auf den Betrachter, der sich in ein wahres Treiben der Farben von Ton zu Ton, von Temperatur zu Temperatur und der eigenen Assoziationen begeben kann.

Und dazu, meine sehr verehrten Damen und Herren, möchte ich Sie nun einladen und Ihnen, liebe Nicole Bold,  zur Ausstellung herzlich gratulieren.

 

Dr. Ute Hübner