D. Uwe Degreif // Eröffnungsrede der Ausstellung „Für einen Augenblick lässt die Zeit uns los“, Donzdorf, 2016

Eröffnungsrede der Ausstellung „Für einen Augenblick lässt die Zeit uns los“
in der Städtischen Galerie Donzdorf

von Dr. Uwe Degreif, Museum Biberach

Schloss Donzdorf 05.06.2016

 

Liebe Frau Bold, sehr geehrter Bürgermeister Stölzle, sehr geehrte Eröffnungsgäste,

ich möchte diese Einführung mit einer allgemeinen Feststellung beginnen. Der italienische Literaturwissenschaftler Umberto Eco, Sie kennen ihn vielleicht als Autor des Romans und Films „Der Name der Rose“, hat den Begriff des „offenen Kunstwerks“ geprägt. Aus Sicht von Umberto Eco ist „Offenheit“ zu einer zentralen ästhetischen Kategorie im 20. und 21. Jahrhundert geworden. Moderne Kunstwerke transportieren seiner Beobachtung nach keinen eindeutigen Sinn mehr, sie treffen keine klaren Aussagen, vielmehr ermöglichen sie unterschiedliche Zugänge. Jeder Interpret kann für sich eine Ebene des Verstehens herstellen und so das Potential, das in einem Kunstwerk steckt, erweitern. Nicht nur der Künstler oder die Künstlerin, auch wir Betrachter haben eine aktive Rolle. Wir bekommen die Freiheit etwas Eigenes zu sehen, auch etwas anderes als die Künstler intendiert haben. Voraussetzung ist, dass wir dem Kunstwerk auf der Spur bleiben und Fragen stellen, so Umberto Eco.

Nun weiß jeder, der sich mit moderner Kunst beschäftigt, dass dies anstrengend ist und verunsichern kann. Jeder hat die Erfahrung gemacht, dass wir auf unsere Fragen keine Antworten bekommen haben. Wir konnten uns nicht sicher sein, ob wir richtig lagen, denn das ‚offene Kunstwerk‘ kann durchaus das ‚unverständliche Kunstwerk‘ sein. Manchmal sind uns Titel eine Hilfe, häufig aber nicht, denn viele lauten – konsequenterweise – „ohne Titel“. Was also tun?

Aus meiner Sicht sind zwei Dinge hilfreich – die Frage der Bedeutung in der Schwebe zu halten und sich auf seinen ersten Eindruck zu verlassen. Vieles teilt sich uns nämlich auf den ersten Blick mit. Dann ist es an uns das Wahrgenommene zu sortieren und unseren eigenen Weg zum Bild zu finden. Bilder öffnen sich einem unter sehr unterschiedlichen Aspekten. Manche Menschen betrachten sie unter dem Blickwinkel des Lichts oder der Temperatur, andere unter dem der Gefühlsstimmung oder des Klangs. Mein erster Blick sucht meistens nach den Räumen im Bild.

Die Gemälde von Nicole Bold bieten eine Fülle solcher Anknüpfungspunkte und sie erfüllen das Kriterium der „Offenheit“ voll und ganz.

Sehr geehrte Damen und Herrn,

ich möchte vier Aspekte beschreiben, wie ich meinen Zugang zu diesen Bildern gewählt habe: 1. über den Bildraum, 2. über die Natureindrücke, 3. über die Art des Malens, 4. über die Titel.

Zum Raum. Wo befinden wir uns, in welchem Verhältnis stehen diese Räume zu uns? Sind sie größer als wir, wie tief würden wir sie ermessen? Es fehlt ein Bildzentrum, das den Raum strukturiert, und es gibt keine Horizontlinien. Deshalb ist nicht klar, ob wir uns im Innen oder im Außen befinden. Können wir uns sicher sein, dass es sich um Eindrücke einer äußeren Wirklichkeit handelt? Oder sind es innere Bilder, die die Künstlerin so aussehen lässt, als ob es sie irgendwo gäbe? Also eine Mischung aus Gesehenem und Phantasiertem? Oder zeigt sich uns ein Blick wie durch ein Mikroskop? Blicken wir etwa in eine Innenwelt, in einen Mikrokosmos?

Eine solche Offenheit der Perspektive ist für die Bilder von Nicole Bold charakteristisch. Manche Räume führen in die Tiefe, manche in die Höhe. Mal schauen wir von oben, mal in Untersicht, mal neigt sich der Bildraum von uns weg. Räume öffnen sich und ziehen sich zurück. Das zweite Charakteristikum ist ein geschichteter Raum. Er besteht aus mehreren Lagen und endet nicht an der untersten Malschicht. Die Künstlerin fügt Raumschicht um Raumschicht übereinander, man könnte sagen, sie stapelt Raum. Besonders anschaulich ist das in den kleinformatigeren Glasarbeiten. Vor vielen Werken empfiehlt es sich zurücktreten und sie aus der Entfernung zu betrachten. Von dort wird man gewahr, dass man nur einen Ausschnitt sieht, denn der Bildraum reicht weit über die Leinwandgrenzen hinaus.

2. Der Eindruck von Natur.

Der stellt sich unmittelbar ein. In jedem Bild. Vor allem durch die Farben und die vielfältigen Formen. Danach durch das Licht und die Durchlässigkeit der Situation. Sie lässt an eine Wildnis denken. Pflanzen schlingern und wuchern, nichts ist kultiviert, nichts geordnet wie in einem Garten. Nirgends ein Mensch, nirgends ein Gebäude, kein Weg, kein Steg, überhaupt nichts was auf Besiedelung hindeutet. Wir schauen auf eine Welt, in die der Mensch nicht eingegriffen hat. Nicht einmal ein Tier bewegt sich.

In den Farben und den Lichtreflexen hat jede Situation etwas Feuchtes, Nasses. Nichts ist fest oder greifbar, das meiste ist unfest, könnte von Hand zerteilt werden. Das Feuchte und Dünne liefert die Substanz dieser Bildwelt. In ihr gibt es Wärmezonen und Kältezonen. Hitze und Dunst breiten sich aus und schaffen eine tropische Vegetation; in anderen Bildern halten sich Nebel und Raureif, herrscht Kälte.

Vieles scheint sich auf einem Wasser zu spiegeln, es könnte auch ein Blick durch eine Wasseroberfläche hindurch sein.

Und das Licht? Es verteilt sich selten gleichmäßig. An einer Stelle kommt es von vorne und an anderen von hinten. In der einen Bildhälfte kann es hell sein, in einer anderen dunkel. Man könnte vermuten es herrschen zeitgleich unterschiedliche Tageszeiten.

3. Die Malerei

Es ist eine spontane, man sagt gestische Malerei. Der Pinsel ist gesättigt, die Farbe wird fast tropfend aufgetragen. Die Künstlerin verzieht, legt nach, überdeckt, wischt und verzieht erneut. Sie führt den Pinsel locker, mal mit Schwung, mal bedacht. Insgesamt mehr zu den Seiten hin als in die Höhe, jedoch ohne jähe Richtungswechsel. In jedem Bild finden sich unterschiedliche Temperamente des Farbauftrags.

Weiß die Künstlerin am Beginn welches Bild sie schaffen wird? Nein. Vieles geschieht intuitiv. Sie beginnt vor einer grundierten Leinwand, ermalt sich Schicht um Schicht, manches konkretisiert sich, aber wo es insgesamt hinführt, das kann sie nur wenige Schritte im Voraus erkennen. Sie befindet sich in einem Fluss, der in viele Richtungen verlaufen kann.

Nicole Bold malt ihre Bilder in unterschiedlichen Positionen, mal an der Wand und mal auf dem Boden. Meist steht sie vor der Leinwand und bewegt sich aufrecht vor ihr; gelegentlich nimmt sie sie von der Wand und legt sie auf den Boden und beugt sich zum Malen darüber. Und ab und zu wechselt sie ein weiteres Mal die Perspektive und dreht das Bild auf den Kopf. Später werden die Farben dann von unten nach oben tropfen.

In ihren Bildern gibt es deutlich mehr Unschärfen als Schärfen. Dies führt dazu, dass wir manches vor unserem inneren Auge ’scharf‘ stellen. Wir formen aus einem Farbfleck ein Blatt, sehen in einem Pinselschwung einen Ast, lassen einen Strich zu einem Halm werden. Weiße und pinkfarbenen Flecken verwandeln sich für uns in fallende Blütenblätter, tropfende Farbverläufe in Fäden und Niederschlag. Auch die Unschärfe unterstützt den Eindruck von Offenheit.

Mitunter muten ihre Farbigkeit und die Kontraste japanisch an.

Schließlich 4. Die Titel

Nicole Bold gibt ihren Bildern Titel. Sie gibt sie ihnen im Nachhinein. Bildtitel sind Angebote an uns, sie lenken für einen Moment unsere Aufmerksamkeit. Sie schlagen vor ein Gemälde unter einem bestimmten Gesichtspunkt zu betrachten. „Für einen Augenblick lässt die Zeit uns los“ heißt das Titelbild diese Ausstellung. Das hört sich nach Innehalten an, nach Heraustreten. Wir dürfen etwas anderes tun. „Für einen Augenblick lässt die Zeit uns los“.

Viele ihrer Titel sind von einer poetischen Kraft und rufen innere Bilder hervor. Sie beschreiben ein Nachdenken, deuten Gefühle an, formulieren Erinnerungen. „Der Fluss trägt den Sommer davon“. Etwas ist dabei zu vergehen und zeigt sich in der Nachbetrachtung. Manche Titel definieren einen Ort, andere einen Klang, wiederum andere beschreiben eine Situation des Lichts. Viele Titel führen zu einem Nachdenken. Einige wecken in uns Empfindungen, derer wir uns bislang nicht bewusst waren.

Die Bildkästen aus Glas tragen den gemeinsamen Titel „Teile zum Ganzen“. Jeder bietet einen Ausschnitte, ist Teile eines Puzzles, dessen Umfang nicht einmal die Künstlerin kennt.

Sehr geehrte Damen und Herrn, eine letzte Frage:

Wie stellt sich Ihnen die Beziehung der Künstlerin zur Natur dar? Formuliert Nicole Bold in ihren Bildern eine Vorstellung, dass Natur etwas Zauberhaftes ist und eine große Vielfalt hervorbringt, wenn sie sich selbst überlassen wird? Oder formuliert sie eher eine religiöse Sicht, die Natur als etwas begreift, das uns die Schöpfung näher bringt? Ein Ort, an dem wir vielleicht etwas Übernatürliches erfahren? Oder sind ihre Bilder Ausdruck einer Trauer über den Verlust von Natur? Das Unberührte wurde gestört und auch zerstört. Schaut die Künstlerin also mit einem kritischen Blick?

Als Betrachter haben wir keine Gewissheit wie die Künstlerin es meint. Wir müssen es in der Schwebe halten. Aber wir sind berechtigt unsere Fragen zu stellen und unsere eigene Sicht einzubringen.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

 

Dr. Uwe Degreif, Museum Biberach