Andreas Richartz // Eröffnungsrede Ausstellung Nicole Bold – luftgewurzelt, Wesselinger Kunstverein, 2019

Eröffnungsrede anlässlich der Ausstellung

Nicole Bold – luftgewurzelt

Wesselinger Kunstverein
Ausstellungsdauer: 28.04. – 19.05.2019

Andreas Richartz gibt sechs Tipps für einen achtsamen Besuch der Ausstellung der Biberacher Künstlerin Nicole Bold (*1969). Ein Rezeptionsangebot aus seiner Vernissage-Einführungsrede für den Wesselinger Kunstverein, das Sie hier exklusiv nachlesen können.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich begrüße Sie recht herzlich zur Ausstellung „luftgewurzelt“ von Nicole Bold im Kunstverein Wesseling. Bevor ich eine weiterreichende Aussage zum Werk von Frau Bold treffe, lassen Sie mich zunächst eine notwendige Feststellung machen: Nicole Bold weist seit 2015 – also seit nicht mal 5 Jahren – eine explosionsartige Ausstellungstätigkeit auf. 27 Ausstellungen seit 2015, so viele, wie in knapp 20 Jahren zuvor, von 1996 bis 2015. Das ist aller Achtung wert und zeigt das Renommee, das Frau Bold inzwischen deutschlandweit genießt.

Ich bin angehalten worden, Sie nicht zu langweilen. Das finde ich gut, denn genau das – sie nicht zu langweilen – ist in meinem eigenen Interesse. Also werde ich versuchen, mich daran zu halten und keine kunsthistorische Einordnung des Werks von Nicole Bold mittels kluger Querverweise auf die Malereigeschichte der klassischen Moderne oder gar auf frühere Epochen versuchen. Über Nicole Bold ist bereits viel geschrieben worden. Im brandneu zu dieser Ausstellung fertig gewordenen und sehr schönen Katalog (Nicole Bold: ENTFLÜCHTIGT – Malerei 2016-2019, erhältlich beim Kunstverein Wesseling, bei der Kölner Galerie Pamme-Vogelsang – www.pamme-vogelsang.de – und bei Nicole Bold) können Sie eine vorgenommene Einschätzung der Arbeiten durch die Kollegin Gudrun Pamme-Vogelsang nachlesen. Auf der Homepage der Künstlerin stehen überdies einige Artikel zu ihrem Werk bereit. Ich habe all dies nicht gelesen, weil ich hoffe, dadurch der Falle der Wiederholung des Gesagten zu entkommen. Statt gediegener Worte, die den kunsthistorischen Schlauberger in mir verraten, also lediglich ein paar Hinweise und Tipps für Sie beim Betrachten der Arbeiten von Frau Bold. Ich lese Ihnen zum Einstieg ein Gedicht vor:

LUFTGEWURZELT
WARUM SO EILIG?
VON HÄNGENDEN GÄRTEN UND FALLENDEN HIMMELN
UND MORGEN?
NICHT EINE WOLKE WAR AM HIMMEL ZU SEHEN
NICHT REGEN SONDERN WASSER
HIER ENTLANG MÜSSTE ES GEHEN
EINGEFANGEN
IM RAUSCH DER ERINNERUNGEN
ZEITPUNKT
LAUTLOS VERSCHWUNDEN
WAS GESCHIEHT IM VERBORGENEN?
UFERLOS
DIE LUFT WAR FEUCHT UND KÜHL

Meine Damen und Herren, das ist natürlich kein Gedicht, wir sind hier schließlich nicht auf einer Lesung. Dieses „Gedicht“ bilden die willkürlich von mir aneinander gereihten Titel der Bilder der Ausstellung, die sie hier sehen. Aber warum lese ich Ihnen die vor? Weil sie auf einen anderen Schaffensprozess der Künstlerin verweisen, der ihr neben der Arbeit an ihren Bildern wichtig ist. Alle Bilder von Nicole Bold tragen mehr oder weniger auffällige Titel. Warum? Zum einen, weil Nicole Bold Lyrik sehr schätzt. Aber es geht noch um etwas anderes. Und das trägt uns unmittelbar in die Bildwelten von Nicole Bold, in das, was wir sehen, wenn wir ihre Bilder sehen: Manche ihrer Bilder tragen Titel, die ganz handfest auf naturale Phänomene verweisen, indem sie Wörter wie Fäden, Licht, Wind, Gestein etc. enthalten, andere vollziehen in ihrem Titel eine Art metaphysische Hinwendung, wenn die Künstlerin ihre Bilder mit poetischen Notationen versieht, die andere Kontexte evozieren: „Höchste Zeit, Träume einzusammeln“ (von 2013) z.B. ist ein solch lyrischer Titel. Immer wieder gibt es diese Titel, die vermeintlich nichts mit dem Abgebildeten zu schaffen haben. Mal zeigen diese Bilder eine vermeintliche Aufsicht, die einen Blick von oben suggerieren könnte, auf ein Geschehen zwischen abstrakten Anordnungen, die – natürlich – dennoch eine Nähe zu Strukturen aufweisen, wie wir sie von Mikro- oder Makroansichten kennen und die an Bausteine strukturaler Anordnungen, an Struktur-Archetypen überhaupt, gemahnen (Dolden, Farne, Gräser, Samen, Wasser, Verwirbelungen, Kaskaden etc.). Und manchmal gibt der Titel Anlass, einen Handlungsanschluss direkt im Bild zu suchen, da im Bildtitel selbst eine sehr direkte Handlungsbeschreibung enthalten ist: „Sie stießen Gesteinsbrocken die steilen Hänge hinunter…“ (2016) ist ein Bild aus solcherart Rezeptions-Kategorie.
In einem ihrer neuesten Bilder, „Sprachlos“ (2019) sind Verschlierungen, Tropfenbahnen zu sehen, die sie in vielen ihrer Bilder als ästhetisches Element der Bewegung und der Zeit nicht einfach gewähren lässt. Es sind in den meisten aller Fälle gemalte Schlieren, die im Fall von „Sprachlos“ ein riesiges mäanderndes Fluss-Delta strömender Sprachlosigkeit aus seltsam leeren, weißen Sprechblasen in Bewegung zu setzen scheinen.

Mein Tipp Nr. 1 darum:
Nähern Sie sich, wenn Sie mögen, durch die Titel den Bildern von Nicole Bold oder tun Sie es bewusst erst im Nachgang, beim zweiten durchschreiten des Bild-Parcours.
Begreifen Sie die Titel der Bilder als wichtigen Bestandteil der Bilder und vernachlässigen Sie sie nicht.

Tipp 2:
Nicole Bold ist KEINE Landschaftsmalerin! Räumliche Tiefe, Dreidimensionalität ist ihr eigentliches Thema. Insofern interessiert sie sich vordergründig nicht für das Sujet ihrer Wahl, sondern WIE sie es möglichst vielschichtig und raumgreifend komponieren kann. Effekte der Dreidimensionalität erzielt sie nicht allein durch die Choreographie der Lichtgestaltung. Bold malt Raum auch, indem sie Hintergründe und in ihnen erscheinende Artefakte in der vorletzten Schicht, die hinter einem Fokus liegen, malerisch in Unschärfe-Relationen versetzt. Achten Sie auf Bolds Strategien der Dreidimensionalität, indem Sie von den Bildern zurücktreten. Sie werden die erstaunliche Entdeckung machen, dass die Räume sich öffnen oder auch schließen.

Tipp 3:
Versuchen Sie, nichts „verstehen zu wollen“. Aber lassen Sie ihre Assoziationen gewähren. Es durchschlingt, es sickert, es perlt, weht und wogt in den Bildern von Nicole Bold. Überbordend ist die Farbigkeit. Nicole Bolds Malerei spricht eine große Einladung aus und beschenkt mit einem immensen Assoziationsangebot. Aber es verweist auch auf die Grenzen der Assoziierbarkeit. Achten Sie darum einmal darauf, wo sie nicht mehr einordnen, einsortieren, erklären können, was sie sehen und genießen Sie, dass sie es nicht können.

Tipp 4:
Die Raumgestaltung in Nicole Bolds Bildern evoziert immer wieder auch Bewegung.
Achten Sie darum auf ihre Blicke. Beobachten Sie sich beim beobachten. Die Bilder weisen eine subtile Kraft der Blicklenkung auf, weil Nicole Bold es meisterhaft versteht, durch Schichtung, Schwünge in der Pinselführung, durch Übermalungen und Auslassungen unsere Blicke durch ihre bewegten Bildräume zu lenken. Diese Malerei kann Bewegung doppelt: Bewegung im Bild und Bewegung unseres Blicks.

Tipp 5:
Zuweilen könnte man meinen, die Bilder könnten auch anders herum hängen. Dieser Verdacht kommt nicht von ungefähr. Nicole Bold malt ihre Bilder auf dem Boden, ohne Staffelei, das heißt, sie umkreist malend ihre Leinwände, sie lässt von ihnen ab und wendet sich ihnen nach dem Trocknungsprozess einer aufgetragenen Schicht erneut zu. Während dieses Prozesses entscheidet sich dann, was oben und was unten ist. Schauen Sie die Bilder gerne so an, als wenn sie auch andersherum zu betrachten sein könnten. Eine aufgeschlossene Kunst-Rezeption erlaubt das.

Tipp 6:
Achten Sie auf Details. Unsere Kognition will wieder erkennen. Dabei fühlt sich unser Geist wohl. Die Bilder von Nicole Bold sind voller versteckter Hinweise auf organismische Strukturen. Sie strotzen vor Details, die sich wiederholen, die sich transformieren und übergehen in andere Strukturen und so zu neuen Bildelementen werden.

Sechs kurze Tipps – keine „Gebrauchsanweisung“, wie sie seltsame Spielarten sogenannter Installationskunst notwendig machen – mit denen im Gepäck sie viel Spaß in der Ausstellung „luftgewurzelt“ von Nicole Bold haben können. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

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